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Channel: Typo-Basics - Peter Glaab
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Schriftwahl professionell, Teil 2 — lineare Leselangstrecken

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Warum gibt es überhaupt so unglaublich viele Schriften? Das lässt sich vor allem mit der Gestaltungsfreude ihrer Schöpfer erklären. Aber es liegt auch an der Vielzahl ihrer Verwendungsmöglichkeiten und dem Wunsch nach Differenzierung und Spezialisierung. Es gibt Schriften für Magazine, Zeitungen, für literarische Texte, für Kleingedrucktes in Telefonbüchern, für Lexikas, für Verkehrsschilder, für die Verwendung auf kleinen Smartphone-Displays, für Werbeplakate, etc.

Wenn ähnliche Schriften mit gleichen formalen Merkmalen für einen bestimmten Verwendungszweck eingesetzt werden, entstehen mit der Zeit Sehgewohnheiten und Konventionen. Schriften laden sich durch den Gebrauch mit Assoziationen auf. Diesen visuellen Erfahrungsschatz kann sich der Gestalter zu Nutzen machen. Er kann die (oftmals unbewusste) Erwartungshaltung der Zielgruppe mit einer bewährten Schrift bzw. Schriftart bedienen, oder sie gezielt mit einer unerwarteten Schrift brechen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Die folgenden (und erweiterten) Anwendungsgebiete schlägt Indra Kupferschmid in ihrem sehr empfehlenswerten Grundlagenbuch ›Buchstaben kommen selten allein‹ vor. Sie haben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, decken aber die wichtigsten Bereiche aus dem Gestalterleben ab:

Lesetexte für lange literarische Strecken — Roman

Die Kriterien für den Satz von langen, linearen Texten haben sich seit Gutenberg kaum verändert. In Sachen Lesekomfort sind die meisten Menschen nämlich konservativ. Der Roman besitzt einen harmonischen Satzspiegel und ausgewogene Proportionen der Seitenränder. Der Text läuft gemächlich, wie ein großer Strom durch das Buch. Von den Überschriften abgesehen, gibt es meistens kaum besonders hervorgehobene Textebenen. Lesekomfort bedeutet, dass die Zeilen flüssig und störungsfrei gelesen werden können. Der Leser ist gewissermaßen im »Automodus«: er liest ohne sich darüber Gedanken zu machen. Eine gute Textschrift für solche Langstrecken sollte folgende Merkmale besitzen:

  • Sie sollte möglichst zurückhaltend sein und darf keine auffälligen formalen Eigenschaften zeigen (z.B. extreme Strichstärkenunterschiede, schmale oder breite Schriften), die den Lesefluss stören.
  • Sie muss gut leserlich sein, d. h. ein flüssiges und störungsfreies Lesen gewährleisten. Leserlichkeit bedeutet, die Schriftzeichen werden klar erkannt und unterscheiden sich deutlich voneinander. Sie hängt zudem von der Qualität des Text-Satzes ab. Der Begriff Lesbarkeit dagegen meint das Textverständnis. Wenn der Leser einen Text sprachlich und inhaltlich versteht, dann ist er lesbar.
  • Antiquas sind für lange lineare Lesestrecken eher geeignet als Groteskschriften, da sie formenreicher sind und ein lebendigeres Schriftbild besitzen. Die erste Wahl sind Antiquas mit dynamischem Formenprinzip.

Schriften: Garamond, Galliard, Adobe Minion, Adobe Jenson, DTL Fleischmann, Centaur Monotype, Baskerville, ITC Mendoza, Novel, Plantin, Quadraat, Trinité u.a.

Zur wei­teren Lek­türe:
Schriftwechsel; Stephanie & Ralf de Jong
Buchstaben kommen selten allein; Indra Kupferschmid

 

Ausblick:
In Teil 3 geht es um Zeitungsschriften.


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